Die Vorteile des japanischen Pendlerzugverkehrs

Mehr wunderbare Bilder des Photographen Michael Wolf findet ihr hier. 

11.02.2019

Viel wird geschimpft über den japanischen Pendlerzugverkehr, er sei anstrengend, eklig oder unzumutbar. Meine knappe einmonatige Erfahrung mit dem Pendeln in Tokyo zeigt mir, dass die japanische Rush Hour insgeheim viel positiver ist als ihr Ruf. Außerdem bin ich der Meinung, dass es viel hilfreicher ist, die guten Seiten an solchen alltäglichen Situationen hervorzuheben statt sich über solche Lappalien wie schwitzige Büroangestellte aufzuregen, pfff. Deswegen kommen hier exklusiv meine ganz persönlichen Vorteile des japanischen Pendlerzugverkehrs. 

Einsamkeit hat keine Chance

Spätestens seit „Lost in Translation“ wird Tokyo nachgesagt eine Stadt zu sein, die vollgestopft ist mit einsamen Menschen, die in ihren Miniwohnungen eher nebeneinander als miteinander leben. Gut, solche Fälle mag es geben… der Pendlerzugverkehr schafft jedoch einfach und kostengünstig Abhilfe. Für nur ein paar Euro hat man zwei Mal täglich die Chance menschliche Nähe voll und ganz auszukosten und das auch noch ohne miteinander sprechen zu müssen. Nach einem solchen, gerne mindestens halbstündigen Bad in der Menschenmasse, ist der tägliche Bedarf an menschlichem Kontakt im Normalfall mehr als gedeckt und die stille Miniwohnung wird plötzlich zur Genugtuung. 

Gesundheitsprobleme können schnell aufgedeckt werden

Wer erinnert sich an die wichtigsten Punkte des Erste-Hilfe-Führerscheinkurses? Richtig, im Zweifelsfall immer zuerst Puls und Atmung testen, bevor weitere Schritte eingeleitet werden können. Problematisch nur, wenn dieser Test einige Augenblicke zu spät kommt. Dieser Fall kann im Pendlerzugverkehr erst gar nicht auftreten. In der äußerst sicheren Umgebung des Zugabteils wird jede*r Pendler*in über die komplette Dauer der Fahrt von mindestens 4 weiteren Passagieren ganz automatisch auf Unregelmäßigkeiten in Puls und Atmung kontrolliert. Durch die kompakte Stehweise im Abteil kann jeder Atemzug ganz einfach von den 4+ Nachbarn nachempfunden werden, so fallen selbst kleinere Atemaussetzer sofort auf, woraufhin Hilfe alarmiert werden kann. Selbst eine drohende Ohnmacht führt im beschriebenen Abteil nicht zu gefährlichen Kopfverletzungen sondern kann durch die 4+ Nachbarn automatisch abgefangen werden. Die Verwendung einer Liege wird dadurch unnötig.

Händewaschen wird überflüssig

Wer kennt es nicht, den Drang sich nach einer längeren Fahrt mit der U-Bahn die Hände so ausgiebig zu waschen, wie es für gewöhnlich die Plakate auf Schultoiletten beschreiben. All die Stangen und Halteringe laden wirklich nicht dazu ein, sie länger als nötig zu berühren - besonders wenn man beobachten durfte, wer sich zuvor daran geklammert hat. Doch auch dieses Problem ergibt sich im Pendlerzugverkehr erst gar nicht. Denn die Hände können ganz gemütlich in den eigenen Jackentaschen bleiben – und das ganz ohne die Gefahr sich bei einer scharfen Kurve den Knöchel zu brechen. Im Pendlerabteil kann man bei einer solchen herannahenden Kurve ganz ruhig bleiben und sich im wahrsten Sinne des Wortes fallen lassen, denn Umfallen ist unmöglich. Deine netten 4+ Nachbarn fangen dich automatisch auf und leiten die Wucht des Aufpralls weiter an die Pendler an der Abteilwand. Diese Position sollte jedoch zur Sicherheit nur von Menschen mit starkem Brustkorb eingenommen werden, da die wogende Menschenmenge im Abteil mitunter ungeahnte Kräfte entwickeln kann. 

Die Dauerkarte in der Sauna kannst du dir sparen

Luftbefeuchter kann man in Japan an gefühlt jeder Straßenecke kaufen und öffentliche Bäder mit angeschlossener Sauna bieten das gewisse Extra in Sachen Wellness und Schönheitspflege. Das Geschäft mit der hohen Luftfeuchtigkeit boomt, besonders in Japan dem Land der ewig laufenden Klimaanlagen. Hohe Luftfeuchtigkeit macht der Legende nach schöne Haut, hilft gegen Halsschmerzen und verlangsamt sogar die Vermehrung und Verbreitung von Bakterien und Viren. Soweit so gut, doch der ständige Kampf Klimaanlage gegen Luftbefeuchter kann ganz schön ins Geld gehen und wer kann sich schon eine Saunadauerkarte leisten?! Alles unnötige Kosten für Menschen im Tokyoter Pendlerverkehr. Denn nicht nur Luftbefeuchter können die Luftfeuchtigkeit erhöhen, sehr viele Menschen auf sehr kleinem Raum – wie etwa einem Zugabteil – haben das gleiche Ergebnis. Hmmmm, ein tiefer Atemzug, tut das gut! Achtung nur vor den immer größer werdenden kondensierenden Wasserfällen an den Türen und Fenstern, die schnell zur Gefahr für nässeempfindliche Handys oder Bücher werden können. 

Neue ungeahnte Inspiration

Bin ich auf der Suche nach neuer Inspiration, sei es für Rezepte, Mode oder Reiseziele verbringe ich oft Stunden damit Homepages wie Pinterest oder Facebook durch zu scrollen. Ein zeitintensives Hobby, das noch dazu mein knapp bemessenes japanisches Handydatenvolumen frisst. Doch mein täglicher Weg zur Arbeit ist in dieser Hinsicht eine echte Fundgrube an neuen Ideen – und das auch ohne mein eigenes Handy zücken zu müssen. Ich muss nur den Blick etwas senken und schon offenbaren sich mir simultan die Handybildschirme meiner 4+ Nachbarn. So bin ich immer total up-to-date was die neusten Trends und Entwicklungen der Japanischen Gesellschaft angeht. Ich kann beobachten, welche Spiele bei 50 jährigen Geschäftsmännern beliebt sind, welche Gardinen von jungen Müttern gekauft werden und welche K-Pop-Stars in den letzten Tagen ihre Haarfarbe geändert haben. Tippen meine 4+ Nachbarn jedoch private Nachrichten in ihr Handy richte ich meinen Blick natürlich wieder diskret nach oben – ich bin ja kein Stalker, was denkst du denn?!

Tägliche Wunder

Und hier kommt er, der absolut größte Vorteil den ich im japanischen Pendlerverkehr sehe - und das meine ich ganz ohne Ironie: Man erlebt jeden Tag aufs Neue kleine Wunder. Das Abteil ist komplett voll, es gibt kein vor oder zurück, die Menschen drängen sich von einer Abteilwand zur nächsten. Der Zug hält am nächsten Bahnsteig und niemand steigt aus – natürlich. Einsteigen wollen trotzdem irgendwie immer welche. Und egal wie voll das Abteil gewirkt hat, irgendwie passen doch immer alle Wartenden noch mit in das Abteil. Es ist wirklich absolut erstaunlich, wie kompakt ein Abteil gefüllt werden kann, wenn die neuen Wartenden nur fest genug drücken.

 

Ich glaube, langsam bin ich in der Großstadt angekommen.


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