Ein Liebesbrief

17.07.2019

Liebes M.,

 

du bist nicht besonders groß, nicht besonders schön und in die Innenstadt braucht man mit dem Zug länger als ich in Deutschland für einen Tagesausflug aufbringen würde. Es gibt bei dir keine coolen Shoppingcenter, vegane Ramenrestaurants oder glitzernde Wolkenkratzer. Wenn ich von dir erzähle, kennen die meisten Menschen noch nicht mal die einzige Bahnlinie, die zu dir führt. Trotzdem warst du ein Zuhause, nicht nur das des Lieblingsjapaners, sondern nach all den kurzen und langen Besuchen auch für mich. Als ich das erste Mal bei dir war, konnte ich gar nicht so richtig glauben, dass ich noch in Tokyo bin. Deine Haupteinkaufsstraße wirkt unter der Woche wie eine Fußgängerzone, auch wenn sie gar keine ist. Die Farbe an den Hinweisschildern blättert ab und das Gemüse kann man hier noch im Tante Emma Laden kaufen. Du warst nicht so, wie ich mir Tokyo vorgestellt habe. Nicht so voll, nicht so cool, nicht so abgehoben. Aber genau deswegen habe ich dich ganz unbewusst so wahnsinnig schnell in mein Herz geschlossen. Ich kann mit dir nicht angeben, deinen Namen kennt eh niemand und die Fotos, die ich von dir schieße, sind nicht besonders glamourös. Aber du warst Heimat, Rückzug, Normalität. In dir habe ich zum ersten Mal allein im japanischen Supermarkt eingekauft. Deinen Namen konnte ich als allererstes in Kanji lesen. Bei dir habe ich mit dem Lieblingsjapaner mein erstes Hanamipicknick gemacht, ich konnte im Badehaus meine ersten Brocken Japanisch an den lokalen Omis ausprobieren und die Besitzer des Tofu-Geschäftes kennen mittlerweile mein Gesicht und ich kenne ihres. Die Vertrautheit mit dir, die sich während meiner allerersten Besuche langsam angebahnt hat, ist mittlerweile zu vollkommen alltäglicher Normalität gewachsen. Wenn ich morgens auf die Arbeit gehe, immer um die gleiche Uhrzeit, gehe ich in dieser stummen Gruppe aus Menschen – abbiegen in die Einkaufsstraße, vorbei am Schrein und am Supermarkt und dann ist da schon der Bahnhof. Wir sprechen nicht, aber wir kennen uns. Schließlich teilen wir jeden Tag unseren Weg. Ich sehe die zwei Grundschuljungs, die mit ihren blauen Uniformhüten und Lederranzen zur Schule rennen, dann kommt der junge Mann mit dem Sidecut an mir vorbei und im Bahnhof kommt auch noch der Opa mit der immer gleichen Stofftasche dazu. Manchmal ist da auch diese rothaarige, westlich aussehende Frau. Ob sie sich wohl auch so wundert, eine andere Ausländerin hier zu sehen? Letztens waren der Lieblingsjapaner in einer deiner  winzigen Bars, die sich dicht an dicht und unisoliert in deiner Einkaufsstraße aneinanderdrängen. Wie so oft, waren wir die einzigen neuen Gesichter, die einzigen unter 45 und ich wohl auch die einzige Ausländerin eh und je. 5 Minuten nach Betreten des Ladens kannten wir schon die halbe Lebensgeschichte der Stammkundschaft und hatten allen Anwesenden persönlich zugeprostet. Das hab ich in Zentraltokyo noch nie erlebt. Sowas erlebe ich nur bei dir. Du magst nicht besonders schön sein und auch sonst einfach nicht so besonders – aber nur bei dir fühl ich mich Zuhause, durch deine Straßen könnt ich ewig laufen ohne dass es mich stresst oder langweilt. Und dein Blick auf Sonnenuntergang-Mount-Fuji ist wohl der schönste der ganzen Welt. Aber du hast dich verändert in letzter Zeit. Der kleine Gemüseladen ist in eine Seitenstraße gezogen und an seinem ursprünglichen Standort wird gerade ein Monstrum mit tausenden Schuhschachtelwohnungen hochgezogen. Genauso wie auf dem kleinen Stück Wiese neben dem Friseur und auch hinter dem Supermarkt. An der Bäckerei mit der nettesten Oma und den leckersten Eiersandwiches hängt seit einigen Tagen ein Schild, dass hier nun vorerst geschlossen sei. Und auch in meiner eigenen kleinen Schuhschachtelwohnung türmen sich die Kartons und gepackten Koffer. Es sieht alles gar nicht mehr so nach Zuhause aus. Ich gehe, der Lieblingsjapaner geht und was mit der Bäckerei-Oma ist frag ich mich schon tagelang. Ich hoffe, dass ich irgendwann mal zu dir zurückkommen kann. Ich hoffe, ich erkenne dann deinen Namen in Kanji noch, ich hoffe die kleine Bar mit den netten Stammkunden wird keinem Schuhschachtelkomplex gewichen sein und vielleicht hat bis dahin auch die Omi-Bäckerei wieder aufgemacht. Das Zuhausegefühl, das ich bei dir habe, mag ich noch nicht aufgeben. Liebes M. – Danke dass du so ganz anders warst, als ich mir Tokyo vorgestellt habe, danke dass du mein Zuhause warst. Ich werd dich vermissen…

Deine Isabella



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