Alles geregelt hier

16.04.2019

Jedes Land hat Regeln, geschriebene und ungeschriebene. Man schmatzt nicht beim Essen, man soll auf der Straße die Nachbarn grüßen und Sonntagsmorgens Rasen mähen geht gar nicht. Ich bin damit aufgewachsen, habe Regeln verinnerlicht, gehalten oder gebrochen und weiß mitunter gar nicht mehr, ob ich mich gerade nur so verhalte, weil ich irgendwann mal eine passende Regel dazu gelernt habe. Deutschland wird oft nachgesagt, ein Land der regelverliebten Bürokraten zu sein, wahrscheinlich stimmt es auch. Ich mag es wenn der Bus dann kommt wenn er kommen soll, ich mag es dass der Käse im Supermarkt genauso viel kostet wie auf dem Etikett steht, ich mag es dass ich seit ich achtzehn bin wählen darf. Regeln finde ich gut, meistens zumindest. In meiner regelkonformen Art entspreche ich wahrscheinlich ziemlich genau dem Stereotyp des korrekten Bürokratendeutschen. Der kontrollierte Regelbruch, der in Deutschland zumindest in einem bestimmten Rahmen wahrscheinlich sogar als erstrebenswert gilt, macht bei den weniger guten Regeln dafür umso mehr Spaß.

Komplizierter wird diese ganze Geregeltheit, sobald man sich aus dem bekannten Kreis der kulturell geschriebenen und ungeschriebenen Regeln begibt und mit all den neuen Regeln die mit einer neuen Heimat einhergehen konfrontiert wird. Ja, Deutschland ist geregelt, aber Japan lässt dieses Stereotyp für mich persönlich in einem ganz neuen Licht erscheinen. Denn seit ich mich näher mit Japan beschäftige, wächst der japanische Regelberg in meinem Kopf immer höher. Ich weiß nicht ob es daran liegt, dass ich hier nicht aufgewachsen bin und die hiesigen Regeln mir so nie ganz in Leib und Blut übergegangen sind. Ich weiß nicht, ob man überhaupt pauschal sagen kann, in diesem Land gibt es mehr Regeln als in diesem… ich weiß nur, dass der Berg im Kopf wächst, immer weiter.

Und wie gesagt, ich mag Regeln, so ganz generell. Ich genieße es, große und mittlerweile auch immer kleinere ungeschriebene Regeln zu durchschauen und dadurch auch die dahinterstehende Kultur ein Stückchen besser verstehen zu können. Ich stelle mich mittlerweile ganz automatisch auf die linke Seite der Rolltreppe, verbeuge mich beim Überqueren des Zebrastreifens und würde niemals auf die Idee kommen im Zug zu telefonieren. Der japanische Alltag ist so durchgeregelt, dass es selbst mit den Tokyoter Menschenmassen nicht zu Zusammenstößen kommt – indirekten und auch ganz wortwörtlichen. Das Wort „Regel“ hat mitunter einen so negativen Beigeschmack, der dem praktischen und angenehmen Lebensalltag hier gar nicht gerecht wird. Ich wünschte, deutsche Züge wären so still und die Straßen so sauber.

Doch das alltägliche Regelnetz spannt sich natürlich auch in Bereiche, die ich vielleicht gar nicht so generell geregelt haben will, mit Regeln deren Sinn sich mir nicht erschließen. Und der gerahmte Regelbruch, der in Deutschland noch so attraktiv erschien, ist hier plötzlich kulturell gar nicht mehr so erstrebenswert. Das ist der Punkt, der mir schwer fällt, der Regelberg der manchmal viel zu hoch erscheint, gar nicht bestreitbar.

Da gibt es zum Beispiel diese Regeln, die ich schlicht und ergreifend nicht nachvollziehen kann und bei denen es mich mitunter fast wütend macht, dass sie trotzdem von der Mehrheit so still befolgt werden. Ich möchte nicht immerzu still und freundlich und perfekt sein, ich möchte auch in der Öffentlichkeit sauer sein dürfen, meine Meinung sagen und genau die Kleidung anziehen die mir eben gefällt. Wie schon zu früherem Zeitpunkt mal erwähnt, geht mir diese ganze eingeschlagene-Nagel-Sache gehörig gegen den Strich. Seit der Lieblingsjapaner nun Vollzeit arbeitet, berichtet er mir immer mal wieder von Regeln, die es in seiner Firma für Berufseinsteiger so gibt – man muss jeden Abend Hausaufgaben machen, man muss die Haare genau so und so geschnitten haben, darf ja nicht zu verrückte Anzüge tragen und muss sich im genau richtigen Maße verbal einbringen. Ich kann nicht nachvollziehen, wie sich erwachsene Menschen so von der eigenen Firma einschränken lassen können und gleichzeitig muss ich doch akzeptieren, dass man diese Regeln eben mitspielen muss, wenn man Teil des Systems sein will – eine wahnsinnig unbefriedigende Einsicht für mich.

Auf der anderen Seite gibt es auch solche Regeln, die ich zwar größtenteils nachvollziehen kann, die ich aber durch Unwissenheit oder Unvermögen einfach nicht umsetzen kann, zumindest im Moment noch nicht. Und diese Regeln machen mich nicht wütend, sie verunsichern mich und machen mir mitunter Angst. Wie oft ich mich in Japan schon wie der sprichwörtliche Elefant im Porzellanladen gefühlt habe, kann ich gar nicht mehr zählen. Ich verwende meine Stäbchen falsch wenn ich mit ihnen beim Essen unbewusst gestikuliere, ich stelle mich in der Mensa falsch in der Schlange an und werde darauf hingewiesen wie ich mein Tablett zu halten habe. Ich weiß nicht, ob ich Menschen in der Öffentlichkeit helfen soll oder ob ich ihnen damit zu Nahe trete. Ich packe meine Geschenke nicht in die korrekte Geschenkverpackung ein, sondern verschenke meine Flugzeugverbeulten-Trolley-Kekspäckchen. Auf meiner jetzigen Arbeit kommt noch die Sache mit der Sprache hinzu. Mein Japanisch ist grundsätzlich nicht besonders gut, wenn ich aber dann noch in höflicher Art und Weise Kunden ansprechen muss, bin ich völlig aufgeschmissen. Ich bin im Normalfall froh, wenn ich den Kunden überhaupt irgendwie auf ihre Frage antworten kann. Wenn mir dann im Nachhinein auffällt, dass ich mit ihnen wie mit einem engen Freund gesprochen habe, statt sie zu „siezen“, könnte ich mich in Grund und Boden schämen. Diese Regeln verunsichern mich teilweise so sehr, dass ich das Gefühl habe, als Elefant im Porzellandladenland nie so recht hinzugehören zu können – die Regeln machen mich gefühlt immer kleiner und vorsichtiger, und ich weiß nicht ob ich das gut finden soll.

In dieser Sache finde ich mich immer wieder in einer mentalen Zwickmühle wieder. Ich habe ständig den Satz „When in rome, do as the romans do“ im Hinterkopf – wenn du in Rom bist, dann verhalte dich auch so wie die Einwohner dort. Schließlich möchte Niemand „dieser Ausländer“ sein, der sich nicht integrieren kann und der im Zug lautstark telefonierend böse Blicke erntet. Gleichzeitig höre ich aber auch immer wieder von verschiedenen Seiten, ich solle mir nicht so viele Gedanken machen, es sei nicht so schlimm wenn ich gegen bestimmte Regeln verstöße. Ich möchte aber auch nicht immer den japanischen „Ausländerbonus“ ausnutzen, der Regelbrüche oft großzügig übersieht. Zudem gibt es auch einfach Regeln, mit denen ich so wenig anfangen kann, dass ich es einfach nicht mit mir selbst vereinbaren kann, sie unreflektiert umzusetzen. Wahrscheinlich gibt es auf diese Zwickmühle gar keine schwarz- oder weiß-Antwort, sondern es ist wie immer das irgendwie ungreifbare grau dazwischen, dem ich mich versuchen muss anzunähern. Höfliche Begrüßungsfloskeln für die Arbeit kann ich mittlerweile..


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